begangen von libanesischen Christen unter Kontrolle der Israelis. Aus Neugierde fragte ich Issam, ob die Leute am Tisch alle Moslems seien. Er wußte es nicht und fragte sie. Einige waren Moslems, andere waren Christen, alle waren Palästinenser. Das brachte mich auf einen interessanten Aspekt der palästinensischen Situation: Religiöse Differenzen, die im Libanon eine so furchtbare Rolle spielten, waren unter den Palästinensern durch ihre gemeinsame Tragödie nahezu beseitigt. Der Nationalismus war an ihre Stelle getreten. Am nächsten Tag flog ich nach Israel zurück. Selten in meinem Leben war ich so voller Wut gewesen. Ich formulierte sie zu einem Artikel, den ich im Flugzeug schrieb. In den folgenden Monaten dachte, redete und schrieb ich unaufhörlich über das Massaker. Ich wurde zum Experten für jedes minutiöse Detail der Vorgänge, befragte Generäle (meistens heimlich) und Soldaten. Als der Kahan-Bericht herauskam, zählte ich zu dessen nachdrücklichsten Kritikern.

Die Bestellung der Untersuchungskommission unter Leitung von Richter Itzhak Kahan war das Ergebnis eines moralischen Aufschreis, wie ihn Israel nie zuvor erlebt hatte. Als die Regierung eine Untersuchung ablehnte, fand eine gewaltige Protestversammlung auf dem Platz der Könige von Israel statt, am gleichen Ort wie die erste große Kundgebung gegen den Krieg. Diesmal aber strömten 400.000 Menschen zusammen, ein Gefühlserlebnis von seltenen Dimensionen. Prozentual zur Bevölkerungszahl würde das einer Demonstration von 20 Millionen Amerikanern oder fünf Millionen Engländern auf einem Platz entsprechen.

Die Regierung mußte einlenken, und es wurde ein unparteiisches Untersuchungsgremium eingesetzt. Die ganze Welt beobachtete seine Verhandlungen. Fast jeder in Israel und in der Welt erwartete seinen Bericht, dem der Sturz der Regierung folgen mußte. Aber es kam anders. Die Kommission stellte die Fakten fest und entschied, daß einige israelische Politiker und Offiziere "indirekt" für das Massaker verantwortlich seien. An vorderster Stelle der Betroffenen stand Ariel Scharon. Nach langem Kampf wurde Scharon vom Posten des Verteidigungsministers abgelöst, blieb aber als Minister ohne Geschäftsbereich weiterhin im Kabinett.

Ich hatte an den Tatsachenfeststellungen des Berichts nichts auszusetzen, war aber nicht der Meinung, daß die Verantwortung Scharons und der anderen "indirekt" gewesen sei - eine Definition, die es im israelischen Recht nicht gibt. Sie waren eindeutig Beteiligte an dem Verbrechen und hätten wegen Mordes verurteilt werden müssen. Und genau das sagte ich auch.

Doch schon während wir auf das Ergebnis warteten und der bevorstehende Sturz der Regierung noch wahrscheinlich war, wurde ich in eine andere Welt entführt.

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