Ohne die kulturgeschichtlichen Vorgänge ganz zu verstehen, erkannte Herzl intuitiv die ungeheure Gefahr, die sich über den Juden in Europa zusammenballte. Er suchte einen Ausweg. Zuerst dachte er, die Juden sollten sich total assimilieren und damit aufhören, Juden zu sein. Vielleicht könnte man durch allgemeine Mischehen dem Problem ein Ende setzen. Dann entwickelte er eine für ihn typische theatralische Idee: Die Juden in Europa sollten sich in Massen taufen lassen, in riesigen, dramatischen Zeremonien, unter Leitung des Papstes. Derlei wurde natürlich nicht ernst genommen, aber dann kam Herzl auf den Gedanken, der ihn zu einer weltgeschichtlichen Figur machte. Kurz und in modernen Begriffen ausgedrückt: Wenn die ganze Welt nationalistisch wird und wenn alle Nationen keinen Platz für die Juden haben, dann müssen die Juden sich eben als eigene Nation konstituieren und sich einen eigenen Staat irgendwo auf der Welt schaffen. Darin besteht der moderne, politische Zionismus. Das Wort stammt nicht von Herzl; es war einige Jahre vorher von einem anderen Wiener, Nathan Birnbaum, erfunden worden als Bezeichnung für die Bestrebungen, in Palästina jüdische Kolonien zu errichten. Für diese Kolonien, die ab 1882 gegründet und zum Teil vom französischen Baron Edmond de Rothschild finanziert wurden, hatte Herzl zunächst nichts übrig. Er fand sie sinnlos, ja geradezu schädlich.

Zion ist ein Hügel in Jerusalem - der Name wurde schon in der Bibel als Synonym für die Stadt Davids gebraucht. Aber als Herzl den Ausdruck übernahm, dachte er nicht an Jerusalem und auch nicht an Palästina. Im Grunde war es ihm egal, wo das jüdische Volk seinen Staat errichten würde. Am liebsten wäre ihm Argentinien gewesen, und er sann viel darüber nach, wie die Völker Südamerikas zu überzeugen seien, den Juden einen Teil des Kontinents abzutreten. Erst kurz vor der Veröffentlichung seiner Broschüre, als er in London mit britischen Juden in Berührung kam, gewöhnte er sich an die Idee, dass der Zionismus doch im Land Zions verwirklicht werden sollte. In England war eine Art christlicher Zionismus schon lange gang und gäbe. Er beruhte auf christlich-theologischen Grundlagen und

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