"Der Mord an Arafat"

21. September 2002

Sollte es Sharon gelingen, Yassir Arafat zu ermorden, wie er es gerne hätte, dann würde der palästinensische Führer im kollektiven Bewusstsein seines Volkes und der ganzen arabischen Welt in der Form in Erinnerung bleiben, wie Moses im jüdischen Bewusstsein geblieben ist.

Moses rebellierte gegen die ägyptische Unterdrückung, führte sein Volk aus dem "Haus der Knechtschaft", zog mit ihm 40 Jahre lang durch die Wüste, machte aus ihm ein neues Volk und geleitete es an die Grenze des Gelobten Landes. Er selbst betrat dieses Land nicht; Gott zeigte es ihm nur von ferne. Genau das würde man auch von Arafat sagen, wenn er jetzt zum Märtyrer wird.

Moses ist natürlich eine mythologische Figur. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler glaubt, dass der Auszug aus Ägypten tatsächlich stattgefunden hat. Fachleute können vielmehr erklären, warum er überhaupt nicht stattgefunden haben kann. Aber all das ist gar nicht so wichtig, denn der mythologische Moses formte das Bewusstsein des jüdischen Volkes mehr, als es ein Stammesführer aus Fleisch und Blut in der Wüste hätte tun können.

Die Haggada, das Buch, aus dem am Pessachabend in fast jeder jüdischen Familie auf der ganzen Welt vorgelesen wird, gebietet uns, so zu empfinden, als würden wir selbst aus Ägypten ziehen. Der jüdische Grundethos ist auf dieser Prämisse aufgebaut. Die Zehn Gebote im Fünften Buch Mose erklären unter anderem, warum am heiligen Sabbat auch den Dienern und Skiaven zu ruhen erlaubt werden muss: "Denkt daran, auch ihr seid einmal Sklaven in Ägypten gewesen!"

Im neuen Mythos, der gerade vor unseren Augen entsteht, ist Sharon der Pharao, und wir sind die alten Ägypter. In der Ge¬

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