Shalom, Rudi, mein Freund

Nachruf auf Rudolf Augstein

11. November 2002

Er war mein ältester lebender Freund. Ich habe ihn kennen gelernt, als ich mit neun Jahren in das Kaiserin-Auguste-Victoria-Gymnasium in Hannover kam. Es war eine katholische Schule, ich war der einzige jüdische Schüler in der Sexta und im ganzen Gymnasium. Als der Ordinarius, Herr Hesse, am ersten Tag das Klassenregister vorlas, muss das sehr aufgefallen sein.

Es waren die ersten Monate des Dritten Reiches, aber das hinderte Rudi Augstein nicht, sich mit mir anzufreunden. Ich glaube, wir waren die beiden besten Schüler in der Klasse. Wir begleiteten einander auf dem Heimweg, wir besuchten uns gegenseitig. 50 Jahre später behauptete er, er könne sich an die Kuchen meiner Mutter erinnern.

Dann wanderte ich aus, und in den nächsten 25 Jahren hatte ich keinen Kontakt mit Deutschland. Ich vergaß seinen Namen und habe selbst einen hebräischen Namen angenommen. Nur durch Zufall haben wir uns wieder getroffen, und erst dann kam die gemeinsame Erinnerung an Herrn Hesse und die Sexta von 1933.

Wie meine Mutter zu sagen pflegte: "Das war aber komisch." Denn in der Zwischenzeit waren wir beide Herausgeber und Chefredakteure von Nachrichtenmagazinen geworden, die beide nach dem Muster der amerikanischen Zeitschrift Time gestaltet waren. Wir lagen beide im heftigen Streit mit unseren Regierungschefs, den zwei Gründungsvätern Adenauer und BenGurion. Wir hatten beide Krach mit unseren Verteidigungsministern, Strauß in Deutschland und sein Freund Shimon Peres in Israel. Wir wurden beide verhaftet, bei ihm gab es Durchsuchun¬

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