Nassers eigentliche Motive werden immer ein Geheimnis bleiben. Die einleuchtendste Erklärung ist, dass er zu der Überzeugung gelangt war, Israel wolle Syrien angreifen und dieser AngrifFsei nur ein Schritt in einem verwickelten amerikanischen Plan, das linksorientierte, prosowjetische Regime in Damaskus zu stürzen. Nasser konnte dabei nicht untätig zuschauen, denn dann wäre sein Anspruch, Führer und Verteidiger der arabischen Welt zu sein, auf ewig dahin gewesen. Der ägyptische Präsident muss geglaubt haben, dass ein dramatischer Akt - der ihn nichts kostete - am ehesten geeignet wäre, seinen eigenen sinkenden Glücksstern wieder emporsteigen zu lassen.

Nassers Vermutungen waren teils richtig, teils falsch. Israel stand kurz davor, Syrien anzugreifen, wie unser Ministerpräsident amVorabend des Unabhängigkeitstages offen erklärte; doch dies hatte absolut nichts zu tun mit irgendeinem amerikanischen Plan oder mit der sozialen Ideologie der syrischen Diktatur, sondern sollte einzig und allein dem Zweck dienen, den von Palästinensern in Israel verübten Sabotageakten ein Ende zu bereiten, die, wie jedermann in Israel glaubte, von den Syriern organisiert waren.

Jetzt begannen die bewussten und unbewussten Vorstellungen und Überzeugungen wirksam zu werden, die sich aufgrund der Ereignisse während der letzten drei Generationen gebildet hatten, um letztlich zu einem neuen Krieg zu führen. Nasser setzte wie alle Araber stillschweigend voraus, dass Israel eine Schöpfung des westlichen Imperialismus sei und daher automatisch im Sinne der westlichen Interessen handele. So wie es eindeutig im amerikanischen Interesse lag, das syrische Regime loszuwerden, so war es in derVorstellungswelt des Arabers ganz klar, dass eine Bedrohung Syriens von Seiten Israels Teil eines amerikanischen Planes sein müsse.

Nasser konnte einfach nicht verstehen, dass Israels einzige Absicht zu jenem Zeitpunkt darin bestand, den Terroristenaktionen ein Ende zu machen - und damit machte er seinen ersten großen Fehler. Hätte er seine Truppen auf der Sinai-Halbinsel konzentriert und gleichzeitig gefordert, dass die syrischen und palästinensischen Guerillas in Palästina den Guerillakrieg einstellen, hätte er Israels Zustimmung gefunden. Damit hätte er sein damals allgemein gültiges Image als eines ge-

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