Während der dürftigen, immer schlecht gekochten Mahlzeiten betrachtete ich Grischa und Nadja immer wieder und fragte mich, woher sie den Antrieb für ihr Leben nahmen. Was hatte Nadja, die wie eine Dame aus der St. Petersburger High - Society aussah, dazu gebracht, als junges Mädchen ihr Zuhause zu verlassen und allein in ein fernes und verlassenes Land zu gehen und dort ein Leben voll unvorstellbarer Mühsal zu fuhren? ״Was veranlasste Grischa, einen jungen Studenten aus der Ukraine, alles zu verlassen und ein gemeiner Arbeiter im malariaverseuchten Tal von Ezreel zu werden? Für mich repräsentieren sie den Zionismus in seiner lautersten Ausprägung. Sie hatten diesen Kibbuz am Ende des Ersten Weltkrieges mitbegründet. Während der ersten zwanzig Jahre führten sie in einem abgelegenen Vorposten, der von oft feindlich gesinnten arabischen Dörfern umgeben war, ein Leben in krassester Armut bei schwerster körperlicher Arbeit, brachten endlose Opfer und hatten dabei auch nicht den geringsten Luxus, wie zum Beispiel eigene Kleidung oder irgendeine Art von Privatleben.

Um die Zeit, als ich sie kennenlernte, ging es dem Kibbuz jedoch schon recht gut. Es war von grünen Bäumen beschattet, und sein Lebensstandard reichte an den der Großstadt heran. Aber anders als die meisten Kibbuzim weigerte man sich hier, auch nur die geringsten Konzessionen an ein bequemeres Leben zu machen. Das Essen blieb karg, mehr aus Prinzip, fürchte ich, als aus Notwendigkeit. Grischa leistete noch immer täglich zehn oder zwölf Stunden körperlicher Arbeit. Nadja war immer noch die Krankenschwester des Kibbuz, so unermüdlich, wie sie es in den zwanziger Jahren gewesen war, als sie in einem Karren Frauen, die in den Wehen lagen, zum Krankenhaus von Affulah fuhr. Ihr erster Sohn, der eine ungewöhnliche Begabung für Musik zeigte, trat in ihre Fußstapfen. Eines Tages legte er seine Geige oben auf den Schrank, um sie nie wieder anzurühren. Er wusste, dass der Kibbuz nicht Musiker, sondern Traktorfahrer brauchte. Ihre Tochter konnte das Leben im Kibbuz nicht ertragen und zog in die Stadt. Später heiratete sie einen skandinavischen UNO - Beobachter. Dass sie nach Europa ging, muss ein Schock tür die Eltern gewesen sein. Der Tod des jüngsten Kindes schien irgendwie vorherbestimmt. Es

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