vielleicht ohne viel Nachdenken hingeschrieben, sind von hoher Bedeutung. Herzl hatte damals über das real existierende Palästina offenbar sehr wenig nachgedacht. Wahrscheinlich wußte er sehr wenig darüber, über seine Einwohner und seine geopolitische Bedeutung. Seine Formulierungen waren schlicht das unbewußte Echo des Zeitgeistes.

Beim Zionistenkongreß 1931 gab Chaim Weizmann, der später der erste Staatspräsident Israels wurde, in einer Rede gegen den Judenstaat als "Endziel" des Zionismus einen interessanten Abriß der Entwicklung von Herzls Denken. Von sämtlichen Äußerungen Herzls, sagte Weizmann, sei "Der Judenstaat" die einzige, in der die Idee des jüdischen Staates auftaucht. Als er dieses Buch geschrieben habe, sei Herzl alles andere als sicher gewesen, daß Palästina das Land sei, in dem sein Plan wahrscheinlich verwirklicht würde. Im Gegenteil, behauptete Weizmann, Herzl habe den Palästina-Plan für rein akademisch gehalten, für einen frommen Wunsch, der keiner ernsthaften Überlegung wert sei. Es gebe nicht die kleinste Gewißheit, daß seine Vision eines Judenstaates sich auf Palästina bezogen hätte. Der ganze Stil seines Buches deute eher darauf hin, daß er beim Schreiben an ein anderes Land gedacht habe (Argentinien) und daß er die Passage über Palästina erst später hinzugefügt habe, nur um seinen zionistischen Freunden einen Gefallen zu tun.

Der erste Zionistenkongreß, der im Jahre 1897 in Basel zusammentrat, legte Palästina als Sitz des künftigen Judenstaates endgültig fest. Doch von all den jüdischen Aktivisten, die aus diesem feierlichen Anlaß versammelt waren, war nur eine Handvoll jemals in Palästina gewesen oder hatte die leiseste Ahnung, wie es in dem Land aussah. Das Palästina, das sie kannten, war das Land der Bibel, vor ihrem geistigen Auge sahen sie das Bild vom Land, wo Milch und Honig fließen, wie es das Buch der Bücher beschreibt. Die Länder, die sie kannten, lagen in Europa, und der Situation, an die sie dort gewöhnt waren, wollten sie ja gerade entfliehen. Für sie war Palästina ein leeres Land. Wenn es dort überhaupt Menschen gab, dann waren das Untermenschen nach den Maßstäben Europas am Ende des vorigen Jahrhunderts - Asiaten, Barbaren, wertloses Volk.

Diese guten Leute, die da in Basel versammelt waren und eine Bewegung aus der Taufe hoben, die das Los ihres Volkes wenden sollte, ahnten nicht, daß zur gleichen Zeit eine andere, sehr anders geartete Bewegung in eben dem Lande entstand, an das sie dachten. Am Ende des Jahrhunderts faßte in der ganzen arabischen Welt, in Palästina und ringsum, der neue Geist des Nationalismus Fuß im Denken der jungen Intellektuellen, der arabischen Offiziere im türkischen Heer, der Dichter und der Kaufleute. Das Ziel, zunächst verschwommen und unbestimmt, kristallisierte sich mit den Jahren zu einer sehr klaren Idee: der Wiedergeburt der arabischen Nation, Selbstbestimmung, Freiheit, Unabhängigkeit. Palästina, damals eine unbedeutende Provinz des türkischen

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