Mitte Mai war Scharon in Washington gewesen und hatte mit Alexander Haig gesprochen. Wie Haig selber später enthüllte, hatte Scharon ihn von seinem Plan unterrichtet, in einigen Tagen im Libanon einzumarschieren. Haig habe, so berichtet er in seinen Memoiren, rastlos Bedenken gegen das Vorhaben geltend gemacht, bis es als Reaktion auf eine international anerkannte Provokation gestartet wurde. Das hieß, daß er Scharon gesagt hatte, er müsse eine solche Provokation schaffen, bevor er angriffe. Das Niederschießen eines israelischen Botschafters stellte eindeutig eine solche Provokation dar.

Sartawi hatte Abu Nidal immer verdächtigt, im Solde des Mossad zu stehen, der zentralen Geheimdienstbehörde Israels. Für ihn lag es auf der Hand, daß Scharon Abu Nidal befohlen hatte, am 3. Juni den israelischen Botschafter zu erschießen, abgestimmt auf seine sonstigen Vorbereitungen.

Ich vermochte diese Theorie nicht zu akzeptieren. Ich konnte und kann bis heute einfach nicht glauben, daß selbst ein Mann wie Scharon einen solchen Befehl geben könnte oder daß der Mossad auf einen solchen Befehl hin tätig würde. Aber wenn nicht die Israelis, wer dann?

Unsere erste Theorie wies auf die Iraker hin. Sie waren es in erster Linie, die Abu Nidal groß gemacht hatten. Die Iraker saßen zur Zeit mächtig in der Klemme: Ihre Invasion im Iran war fehlgeschlagen und die Iraner sammelten sich zum Angriff auf Bagdad. Es wäre begreiflich, daß die Iraker in ihrer Verzweiflung den Ausbruch des Krieges im Libanon förderten, bot er doch den Vorwand für einen gefühlvollen Appell an die iranischen Moslembrüder und die arabische Welt insgesamt, den irakisch-iranischen Krieg zu beenden.

Tatsache aber war, daß Abu Nidal sich im Juni 1982 in Damaskus aufhielt und von dort aus operierte. Es war undenkbar, daß er eine feindselige Handlung gegen die Syrer beging. Ja, die Bedingungen in Syrien waren so, daß Abu Nidal nichts dergleichen ohne ausdrücklichen Befehl des syrischen Diktators getan hätte.

Aber machte denn das Sinn? Warum hätte Hafez al-Assad eine Aktion befehlen sollen, die den israelischen Angriff auf die syrische Armee im Libanon auslösen mußte?

Die Antwort war ganz einfach, aber wir brauchten eine Weile, bis wir sie sahen. Die Syrer erwarteten nicht, daß Scharon sie angreifen würde. Sie waren sicher, daß sich die ganze Wucht der israelischen Armee gegen die PLOTruppen richten würde und daß Yassir Arafat und seine Organisation am ersten oder zweiten Tag zusammenbräche. Der PLO-Ministaat würde vernichtet, Arafat würde getötet oder von den Israelis gefangengenommen und die Syrer würden ihr großes Ziel erreichen: Die PLO als eigenständige palästinensische Macht wäre ausradiert. In der Erwartung eines möglichen israelischen Angriffs hatte die PLO bereits Duplikate ihrer sämtlichen Büros in Damaskus eingerichtet. Diese waren natürlich mit Leuten besetzt, die akzep-

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