Sitzung war und kein Fotograf Aufnahmen machen würde, setzte er ihn auch nicht wieder auf.
Während des zweistündigen Gesprächs beobachtete ich ihn aufmerksam, aufs neue fasziniert von seiner Persönlichkeit. Sein berühmtes herausforderndes Lächeln, so schien es mir, war in Wirklichkeit eine Art Schutzschild, hinter dem sich ein im Grunde scheues und introvertiertes Wesen verbarg. Wenn er es ablegte, zeigte sein Gesicht einen ziemlich traurigen Ausdruck. Wieder kam mir der Gedanke, daß Arafat gewissermaßen das Lebensgefühl der Palästinenser personifiziert - den Trotz, den Pessimismus, die Beharrlichkeit, die Trauer. Oft schlich sich ein bitterer Ton in seine Stimme, besonders wenn er über andere arabische Länder sprach, über die Syrer und ihre palästinensischen Anhängsel. "Sie sind Marionetten, sie sind nichts als Marionetten", sagte er eher betrübt als zornig. Ich erinnerte ihn daran, daß wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, kurz bevor er nach Tripoli ging, und daß er uns nicht den leisesten Hinweis darauf gegeben hatte, was er vorhatte. "Ich wußte, daß ich dahin unterwegs war", sagte er lächelnd, "ich wußte auch, daß ich hinterher nach Ägypten gehen würde."
Tripoli, erzählte er, war schlimmer als Beirut. In Beirut gab es bestimmte Viertel, die von der israelischen Armee nicht bombardiert wurden, etwa die ausländischen Botschaften und das Hamra-Viertel. In Tripoli wurde nichts ausgespart. Außerdem war in Tripoli nur ein Teil der palästinensischen Truppen versammelt. Und doch war er als Sieger daraus hervorgegangen. Wie es schien, beschäftigte ihn im Augenblick vor allem die Lage in Syrien. Die PLO-Führung wartete offenbar darauf, daß Präsident Hafez al-Assad von der politischen Bühne verschwand. In einer solchen Situation mußte es zwangsläufig zum Konkurrenzkampf zwischen den beiden rivalisierenden AlawiFraktionen kommen, der einen unter Führung von Assads Bruder Rifaat und der anderen unter Führung der Militärs. Rifaat stand der PLO näher, beide Fraktionen brauchten aber bitter nötig Unterstützung sowohl in Syrien als auch in der arabischen Welt. Sollte es so kommen, dann würde automatisch die Bedeutung der PLO rasch wachsen. Dann wäre die dunkelste Zeit vorbei. In der Zwischenzeit wollte Arafat den Palästinensischen Nationalrat einberufen. Er war entschlossen, der Konsensregel ein Ende zu setzen und ein System der Mehrheitsentscheidungen einzuführen.
Das gab mir Gelegenheit, auf ein historisches Beispiel zu verweisen, das ihm unbekannt war: das Liberum- Fc/o-System, das jahrhundertelang in Polen die Regel war. Nach diesem Verfahren konnte jedes Mitglied des polnischen Sejm, eines aus Adeligen zusammengesetzten Parlaments, aufstehen und sagen: "Ich erhebe Einspruch!", und das reichte aus, um einen Beschluß zu verhindern. Die Historiker sind sich einig, daß diese Regel eine große Rolle bei der Zerstörung des polnischen Staates gespielt hat, der immer wieder den üblen Plänen seiner mächtigen Nachbarn zum Opfer fiel.