Wir waren etwa neun Jahre alt, als wir uns zum erstenmal begegneten. Warum ich mich in der Schule damals neben ihn setzte, weiß ich nicht mehr. Es war sicher nicht deshalb, weil Uri, der damals noch Helmut Ostermann hieß, der einzige jüdische Schüler in unserer Klasse, ja an unserer Schule war. Denn was dies bedeutete und bedeuten sollte, konnte ich damals ganz sicher nicht wissen.
Die meisten Schüler des humanistischen Kaiserin-Auguste-Victoria-Gymnasiums in Hannover waren katholisch, meine Familie war katholisch, wie hätte mir in den Sinn kommen können, daß dieser Klassenkamerad etwas anderes sein könnte. Eine Gemeinsamkeit gab es, die mir allerdings erst später klar wurde: In Uri Avnerys und in meiner Familie wurde Politik zu jener Zeit mehr und mehr zum Hauptgesprächsthema.
1933: Machtübernahme, Reichstagsbrand, im Reich herrschte Unruhe; Musikprofessor Bein übte mit unserer Klasse die von ihm gedichtete und komponierte Hitler-Hymne "Du hast uns stets aufs neue ins Herz gesenkt die Pflicht" ein. Uris Mutter backte den besten Apfelkuchen, den ich kannte - aber dann war Uri eines Tages verschwunden. Seine Familie, die ich zwanzig lange Jah-