heißt, daß jeder auf die Schwäche des anderen wartet, um wieder einen heiligen Ort irgendwo für sich "zu erobern". Und jeder lacht daraufhin und ist bedacht, daß man ihm nichts wieder wegnimmt. Ist der andere aber stark genug, wird er die Herrschaft wieder zurückerobern wollen.

Absolute Bedingung für ein friedliches Zusammenleben ist, daß die heiligen Stätten nicht mit Nationalfahnen versehen sind. Es ist sowieso eine absurde theologische Auffassung, daß ein Ort heiliger sein soll, wenn er eine Flagge aufweist. In der jüdischen Theologie zumindest hat die Fahne keine Bedeutung. Das Grab von Rabbi Nachman aus Brazlaw ist fast so heilig wie das Grab von Josef, aber niemand kommt und legt eine israelische Flagge darauf und behauptet, ohne sie sei es nicht heilig. Es besteht da kein Zusammenhang. Die Orte der Juden sind nicht dadurch heilig, daß man an ihnen eine Fahne anbringt. Sie existierten bereits, bevor es Fahnen und Nationalstaaten gab.

Für mich persönlich besteht die Verbindung zum Judentum sowieso mehr durch Bücher und Texte und nicht durch Orte. Das trifft bei mir übrigens nicht nur für das Judentum zu. Wenn man mir heute die Möglichkeit gäbe, zu wählen zwischen Dostojewskis Büchern und einer Reise zu den wichtigen Stätten seines Lebens, würde ich mich für die Bücher entscheiden. Wenn mir jemand eine Streichholzschachtel aus der Zeit Dostojewskis gibt, so ist das eine Kuriosität, und ich werde sie zu den Büchern legen. Aber jemand, der sie an die Stelle der Texte setzt, tut mir leid. Also wirklich!

Was die Jerusalemfrage betrifft, so müssen wir uns beschränken und sie offenlassen, bis der Messias kommt. Mit beschränken meine ich beispielsweise eine territoriale Beschränkung auf eine Größe von etwa vier Quadratkilometern inklusive der heiligen Stätten.

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