Die Provokation

1. Oktober 2000

Es hat keinen Zweck, Ariel Sharon wegen des Blutvergießens anzuklagen, das seinem Besuch auf dem Tempelberg folgte. Seit dem Massaker von Kibya 1953, dem blutigen Regiment in Gaza Ende der sechziger Jahre und dem, was 1982 in Beirut geschah, hat er viel Blut vergossen, wo immer er auftauchte. Das lässt an den Mann denken, der in der Bibel aufschrie: "Hinaus, hinaus, du Bluthund!" (2 Samuel 16,7) Der zynische Zweck des Besuchs ist offensichtlich. Das Timing spricht für sich selbst: Sharon wollte die Aufmerksamkeit von Benyamin Netanyahu, der ein Comeback versuchte, abund auf sich lenken. Der Preis dafür waren ein paar Dutzend Tote und ein paar Hundert Verwundete. Na und?

Die Provokation selbst folgte einer alten Tradition des rechten Flügels. Der Aufstand von 1929, einschließlich des Massakers in Hebron, war die Folge einer Provokation der Beitar, einer Vorgängerorganisation des heutigen Fikud, an der Klagemauer. Sie war ein Verstoß gegen die Regeln, die von der britischen Verwaltung erlassen worden waren, um den zerbrechlichen Frieden im Areal des Tempelbergs aufrechtzuerhalten.

Aber es hat keinen Zweck, den Elefanten anzuklagen, der sich im Porzellanladen bewegt. Das ist Elefantenart. Die Schuld liegt allein auf den Schultern derjenigen, die ihm erlaubten, den Laden zu betreten: Ehud Barak und Shlomo Ben-Ami.

Barak spielte bei der Provokation eine unrühmliche Rolle. Als Ministerpräsident ist er für den Friedensprozess verantwortlieh. Als Verteidigungsminister ist er für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung des Landes zuständig, für Israelis genauso wie für Palästinenser. Beide Ämter verpflichteten ihn, Sharons Besuch auf dem Tempelberg zu verhindern; denn die

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