"Des Kaisers neue Kleider"

1. Juli 2002

Zufällig hörte ich die Rede von Präsident George W. Bush in Kopenhagen. Dies erinnerte mich gleich an die berühmteste Geschichte, die in dieser Stadt geschrieben wurde: "Des Kaisers neue Kleider".

Jeder lobte diese gelungene Rede. Premierminister A. lobte den eleganten Schnitt, Präsident B. empfahl das feine Gewebe, Scheich C. bewunderte den schönen Kragen - und ich sah nur den nackten König.

Jeder weiß natürlich, dass es eine dumme Rede war, vielleicht die dümmste, die je ein amerikanischer Präsident gehalten hat. Aber wer will schon dem Führer der einzigen Weltmacht widersprechen? Wer will den Zorn eines Mannes auf sich ziehen, der, während er so dummes Zeug von sich gibt, solch eine erschreckende Macht besitzt.

Ein zwölfjähriger Schüler würde sich geschämt haben, seinem Lehrer einen derartigen Aufsatz abzuliefern. Die Annahmen entbehren jeder Grundlage, das von der Lage gezeichnete Bild ähnelt einer Karikatur, die Schlussfolgerungen sind lächerlieh und ein Teil steht im Widerspruch zum anderen.

In der Rede heißt es: Die Palästinenser müssen ihren Führer in freier, demokratischer Wahl wählen - aber es ist ihnen verboten, einen Führer zu bestimmen, der weder Sharon noch Bush gefällt. Sie sollen ein demokratisches, pluralistisches, liberales Vielparteiensystem mit Gewaltenteilung, unabhängigen Gerichtshöfen und transparenten Finanzen aufbauen. Um all dies zu erreichen, wird ihnen befohlen, die Hilfe von Amerikas Verbündeten im Nahen Osten anzunehmen: dem "demokratischen" Saudi-Arabien, dem "pluralistischen" Ägypten, dem "liberalen" Jordanien - finanzielle Transparenz wie in Riad, Gewaltenteilung wie in Kairo, unabhängige Gerichtshöfe wie in Amman.

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