Eine der Folgen des Naziregimes in Deutschland war, dass es einen "normalen" deutschen Nationalismus unmöglich gemacht hat. Nach Hitler konnte kein Deutscher auf sein Volk stolz sein, konnte keine deutsche Geschichte Auschwitz umgehen, konnte keiner die Worte "Deutschland, Deutschland über alles" singen, obwohl der Dichter selbst sie ganz anders gemeint hat, konnte keiner die Fahne verherrlichen, obwohl es eine andere ist. Aber wie kann ein Volk auf Dauer so leben? Wie kann ein Volk, wie können Millionen von Menschen in einer dauernden Ablehnung ihrer nationalen Gefühle existieren?
Eine echte "Bewältigung" der Vergangenheit hätte dazu geführt, dass die Deutschen ihre Vergangenheit, ihre ganze Vergangenheit wahrgenommen, das Gute und das Schöne als Basis für die Zukunft akzeptiert hätten, ohne das Schreckliche und Ungeheuerliche zu verleugnen. Man hätte versuchen können zu verstehen, wie das in Deutschland passiert ist, nicht als Betriebsund Verkehrsunfall bagatellisiert, sondern als Teil der deutschen Geschichte gesehen. Vielleicht hätte man versuchen können zu verstehen, was in der deutschen Geschichte in den letzten Jahrhunderten zu einem Hitler führen konnte. Das ist natürlich nicht geschehen, weder in der Bundesrepublik noch - und noch weniger - in der DDR, noch in Österreich. Die Verdrängungsmethoden waren verschieden, die Ausreden mannigfach, das Ergebnis jedoch dasselbe. Jetzt sehen wir die Folgen.
Am Tag der Wiedervereinigung stand auch ich vor dem Reichstagsgebäude, vielleicht der einzige Israeli in der Riesenmenge. Die Stimmung gefiel mir, sie war gedämpft und nachdenklich, der neue Nationalismus, der zutage trat, sah "normal" aus. Ich war mir aber in diesen Augenblicken, als die Fahne langsam am Mast hochging, bewusst, dass die wirkliche Prüfung Deutschlands erst jetzt beginnt. Wie wird sich diese neue Macht innerlieh ausdrücken? Wird sie wirklich zu einem "Europäischen Deutschland" statt zu einem "Deutschen Europa" führen? Wird in diesem neuen, vereinigten Deutschland nicht wieder ein perverser Nationalismus hochkommen? Wird die Kluft zwischen den alten und den neuen Bundesländern nicht zu einer seeli-