Rede zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises
Oldenburg, 4. Mai 2002
War er ein Verräter? War er ein Patriot? War er ein Träumer? Oder war er doch ein Realist? Im Dritten Reich galt Carl von Ossietzky als Verräter. Die Masse des Volkes lief dem Rattenfänger von Hameln nach. Eine ungeheure Propagandamaschinerie trommelte zum Krieg. Anders Denken war Verrat. Auf Verrat stand Todesstrafe. Er wurde zu Tode gefoltert.
Heute, 64 Jahre später, ehren wir Carl von Ossietzky als den wahren deutschen Patrioten, als einen Propheten der neuen Zeit, als den Realisten, der seiner Zeit weit voraus war, der nicht die Trommel der widerwärtigen Gegenwart, sondern die Musik der Zukunft hörte. Für viele seiner Landsleute, vielleicht für beinahe alle, war er ein Verräter. Aber es gibt Zeiten, in denen ein anständiger Mensch eben ein Verräter sein muss. Zeiten, in denen wahrer Patriotismus und Verrat ein und dasselbe sind, in denen die Ehre eines Volkes von den wenigen Verrätern aufrechterhalten wird, die den unglaublichen moralischen und physischen Mut haben, "Nein" zu sagen, wenn alle um sie herum "Ja" schreien; Zeiten, in denen Menschen für den Frieden eintreten, wenn ein ganzes Volk vom Wahnsinn des Kriegs besessen ist; Menschen, die gegen Rassenwahn und nationalen Sadismus auftreten, wenn die Demagogen des Hasses mit ihren hysterischen Stimmen die Luft verseuchen. Millionen von Menschen in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt mussten ihr Leben lassen, gefoltert, zerschossen, zerfetzt, verbrannt, vergast werden, bis die Völker Europas sich im Frieden zusammenfanden, wie Carl von Ossietzky es wollte.