Der Historiker Isaac Deutscher hat die Situation mit einer Parabel beschrieben: Ein Mensch wohnt im obersten Stockwerk eines Hauses, in dem ein Brand ausbricht. Um sein Leben zu retten, springt er aus dem Fenster und landet auf dem Kopf eines zufällig daherkommenden Fußgängers, der schwer verletzt wird. Zwisehen den beiden bricht ein bitterer Streit aus, der von Tag zu Tag eskaliert. Das ist ungefähr das, was tatsächlich passiert ist.
Ende des 19. Jahrhunderts spürten viele Juden, dass der Boden unter ihren Füßen buchstäblich zu brennen begann. In Europa entwickelte sich der Nationalismus. Jedes Volk, ob groß oder klein, wollte in einem eigenen, nationalen Staat leben. Dies war eine nationalkulturelle Entwicklung, die dabei war, die großen dynastisehen Staaten, wie das Österreich-Ungarische Kaiserreich oder das Osmanische Reich, zu ersetzen.
Fast alle diese nationalen Bewegungen waren antijüdisch. In Frankreich, dem Mutterland der Judenemanzipation, kam es zur Dreyfus-Affäre. Auf den Straßen wurde mit dem Ruf "Tod denjuden" demonstriert. Im neuen Deutschen Reich waren alle
Schichten der Bevölkerung vom Antisemitismus infiziert, ein Begriff, der erst mit der Gründung des Reiches entstanden war. Der offizielle kaiserliche Hofprediger verbreitete diese Lehre. Die polnische Unabhängigkeitsbewegung war genauso offen antisemitisch wie die Mehrzahl der kleineren Völker Osteuropas.
Im nationalen Europa waren die Juden eine "Anomalie". Sie waren über viele Länder und Völker verstreut, hatten keine eigene Heimat. Sie waren ein Überbleibsel aus einer früheren Epoche von vor zweitausend Jahren. Damals war die Welt um das Mittelmeer in ethnisch-religiöse Gemeinden aufgeteilt gewesen. Jede Gemeinde war autonom, mit eigenem Rechtssystem - ob in dem byzantinisehen oder später im Osmanischen Reich. Ein Jude aus Alexandria in Ägypten hätte eine Jüdin aus Antiochia (im heutigen Syrien) heiraten können, nicht aber seine christliche Nachbarin.
Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts dachte noch niemand an die Möglichkeit der Shoa, des Holocaust: der geplanten, industriell organisierten Vernichtung des jüdischen Volkes. Aber die Pogrome in Russland waren eine eindeutige Warnung.
Als die Juden realisierten, dass sie keinen Platz in den sich entwickelnden nationalen Bewegungen hatten, beschlossen sie, das Gleiche zu tun wie alle anderen: die Juden in einer Nation nach