Was ist eine Nation? Viele Antworten hat man auf diese Frage gegeben, jede beeinflusst durch die besondere Ideologie ihres Vertreters. Einige betonen das gemeinsame Territorium, andere die gemeinsame Kultur oder Wirtschaft. Ich glaube nicht an abstrakte Formeln, denen das Leben auf irgendeine Weise angepasst werden muss. Eine schlichte und pragmatische Antwort scheint mir die richtige zu sein: Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die glauben, dass sie eine Nation sind, die als Nation leben wollen, ein gemeinsames politisches Schicksal haben, sich mit einem politischen Staat identifizieren, seine Steuern zahlen, in seinem Fleer dienen, für seine Zukunft arbeiten, sein Geschick teilen - und notfalls für ihn sterben.

In diesem Sinne sind wir in Israel zu unserem Heil oder Unheil unmissverständlich und unwiderruflich eine Nation. Unsere Nation umfasst uns alle, von Dan bis Eilat, schließt aber nicht die Juden in Brooklyn, Paris oder Berlin ein, mögen sie auch mit unserem Lande sympathisieren und sich ihm nahe fühlen.

Der Unterschied zwischen jüdischen Vätern irgendwo in der Welt und Söhnen, die Israelis sind, ist viel mehr als der gewöhnliche Gegensatz zwischen den Generationen; eine Mutation hat stattgefunden. Eine veränderte Lebensweise und Ernährung, das andere Klima, die neue politische Wirklichkeit und gesellschaftliche Umwelt mussten den Sohn, den in Palästina Geborenen, seinem aus dem Getto gebürtigen Vater sehr unähnlich machen. Nicht selten hört ein junger Israeli in den USA oder in Europa die erstaunte Bemerkung: "Sie sehen aber gar nicht wie ein Jude aus!" Dieses zweifelhafte Kompliment enthält ein Körnchen Wahrheit. Der robuste, hochgeschossene, häufig dunkelblonde und blauäugige Salm unterscheidet sich tatsächlieh sogar äußerlich von seinen jüdischen Vorfahren, wie nicht minder der durchschnittliche Australier oder Amerikaner vom Typ seines englischen Urgroßvaters ab weicht. Jüdische Kultur, geschaffen in der Diaspora von einer verfolgten, religiös gesinnten Minderheit, findet keinen Anklang bei einer Israeli-Generation, die ein übersteigertes Freiheitsgefühl erfüllt. Jener Teil der jüdischen Religion, der auf dem Talmud und der Halacha, beide Produkte der Diaspora, beruht, ist in Israel zu Partei-Schlagworten herabgesunken; die Bibel jedoch, das

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